Deutscher Jiu Jitsu Bund

Wäre ich nicht als Teil eines Lehrertrios, welches einen Schüleraustausch zwischen den beiden Partnerstädten Castrop-Rauxel und Nowa Ruda (Polen) in die Wege leiten sollte, über die Grenze ins polnische Nowa Ruda (ehemals Neurode/Niederschlesien) gefahren, hätte ich vermutlich nie das 2006 aufgestellte Denkmal für den hier geborenen Komponisten Franz Eckert (1852-1916) erblickt und hätte mir über die Entwicklung der japanischen Nationalhymne, von welcher ich seit Jahrzehnten dachte, sie gut zu "kennen", keine weiteren Gedanken gemacht.
Es handelt sich hierbei schließlich um ein japanisches Kulturgut, das auch für das Jiu Jitsu von Bedeutung ist: Wenn bei den Dan-Prüfungen der Korporation Internationaler Danträger (KID) und des Deutschen Jiu Jitsu Bundes die Prüfungsleistung erbracht wurde, werden traditionell die Nationalhymnen Deutschlands und Japans abgespielt. Sie runden selbstverständlich die Dan-Prüfungen als Veranstaltung und Zeremonie ab und geben zugleich Rahmen und Hintergrund. In diesem Teil der Dan-Prüfungen bekunden KID und DJJB die kulturelle Verbundenheit des deutschen Jiu Jitsu mit dem Ursprungsland Japan.

Interessant ist hierbei ein Blick auf die Entwicklung der Nationalhymnen von Deutschland und Japan im Vergleich. Die Musik der Nationalhymne Deutschlands wurde von Josef Haydn komponiert, der Text stammt von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Haydn wurde hierbei möglicherweise von einer kroatischen Volksweise inspiriert. – Text und Musik der Nationalhymne sollten seit der Reichsgründung 1870/71 eine bewegte Geschichte haben. So war die Kombination aus dem Text Hoffmann von Fallerslebens und der Musik Haydns anfangs noch nicht als Nationalhymne vorgesehen, sie sollte erst in der Weimarer Republik als Lied der Deutschen ihrer Aufgabe in allen drei Strophen nachkommen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges sowie die Wurzeln und Folgen desselben hatten wiederum einen Einfluss auf die Gestalt der deutschen Nationalhymne, welche sich fortan in der (alten) Bundesrepublik nur in der dritten Strophe manifestieren sollte.
In der DDR distanzierte man sich von den alten Traditionen der Nationalhymne und ging mit dem Text von Johannes R. Becher und der Musik von Hanns Eisler in Auferstanden aus Ruinen eigene Wege – wenn auch nur für gut 40 Jahre. Nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR hat es nach vielen Überlegungen keine neue Nationalhymne gegeben, sondern die offizielle Nationalhymne der neuen Bundesrepublik ist weiterhin die dritte Strophe des Deutschlandliedes.

 

Ähnlich bewegt gestaltet sich die Geschichte der Nationalhymne Japans Kimi Ga Yo. Der Liedtext geht auf ein mehr als 1.000 Jahre altes japanisches Gedicht zurück. Mit Blick auf die Musik zum Text kann gesagt werden, dass bei der Vertonung der japanischen Nationalhymne in der jetzigen Form mit Oku Yoshiisa und Hiromori Hayashi zwei Japaner und mit Franz Eckert ein Deutscher beteiligt waren. Was möglicherweise in früheren Zeiten Japans undenkbar war, wurde nach der Öffnung Japans 1868 in Gestalt der Entwicklung der Musik einer japanischen Nationalhymne, an der auch Nicht-Japaner beteiligt waren, Wirklichkeit. De fakto sollte es aber im Rahmen eines langen Entwicklungsprozesses noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dauern, bis Text und Melodie zur offiziellen, gesetzlich verankerten und akzeptierten Nationalhymne Japans werden würden.
 

Bezeichnend für die Geschichte Deutschlands und Japans ist, dass in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Meiji-Restauration (1868) die Gründung des Deutschen Reiches (1870/71) erfolgte. Die deutsche Nationalhymne ist nach der Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands am 3. Oktober 1990 ebenfalls erst seit 1991 mit der dritten Strophe die Nationalhymne des wiedervereinigten Deutschlands.
Die Öffnung Japans ermöglichte schließlich auch den Transfer des Wissens um Jiu Jitsu und Budo nach Deutschland. Das uralte Wissen um die Kampfkünste Japans war im Deutschen Reich sehr willkommen und wurde schnell integriert – aber auch weiterentwickelt. In der wechselhaften Geschichte beider Staaten, denen nationale Symbole und nationale Identität enorm wichtig waren, spiegelt sich die Evolution des Menschen wider. Die Entwicklung des Menschen funktioniert dann, wenn Grenzen überwunden werden und ein kultureller, künstlerischer und geistiger Austausch mit dem Blick auf das Höchste und Beste stattfinden kann.

Diese Evolution findet auch in den Budo-Künsten, zu denen sich auch das Jiu Jitsu zählt, statt. Die Evolution ist nicht aufzuhalten. Erprobtes bleibt, Neues wird überprüft und eingebunden oder nicht, Dinge, die keine praktische Anwendung mehr finden, werden entweder zur immateriellen Tradition oder sie verschwinden und geraten in Vergessenheit. Dank des analogen und digitalen Gedächtnisses geraten diese Überlegungen – wie das Denkmal für den deutschen Komponisten Franz Eckert im heute polnischen Nova Ruda – nicht in Vergessenheit und bieten Gelegenheit, über die schöpferische Kraft des Menschen überall auf der Welt, in allen wahrnehmbaren Formen weit über das Gebilde der Nation hinaus nachzudenken.

Text und Bilder: Volker Schwarz