Jede Kultur hat ihre Geschichte, jedes Land seine ganz eigene Geschichte, aber es gibt auch eine Weltgeschichte.
Innerhalb dieser Weltgeschichte wiederum interessiert vor allem die Entwicklung (der Kampfkünste) im ostasiatischen Raum, speziell die in Japan.
Ein jeder Budoka, der sich schon einmal gefragt hat, wie es mit seinem Wissen über Japan selbst mit seiner Religion, Philosophie, Geographie,
Geschichte, Sprache und Kultur bestellt ist, hat sich bestimmt auch einmal die Frage gestellt, wie die Entwicklung der Kampfkünste und "Kämpfer"
(der Ritter) vor vielen hundert Jahren aussah.
Jeder Raum, sofern er von Menschen bevölkert wird, wird von einer oder mehreren Gruppen von mehr oder weniger mächtigen Gebietern beherrscht.
Es geht um den Erhalt oder den Ausbau ihrer Macht. Zu diesem Zweck ist es nötig, sich eine funktionierende Gesellschaftsschicht (Stand/Kaste) heranzubilden,
welche die (Staats-)Macht im Auftrag des Herrschers ausübt bzw. seinen Willen durchsetzt.
Die Akteure, die diese Funktion im europäischen Raum seit dem Mittelalter wahrnahmen, waren die Ritter, im japanischen Raum waren es die Samurai.
Doch sie waren beileibe nicht nur die starke Hand des Kaisers, König oder Fürst, sondern auch Träger der "höfischen" Kultur.
Dadurch dass die Samurai als "Ritter" Japans bezeichnet werden, kommt der Begriff "Ritter" ins Spiel und es stellt sich die Frage,
inwieweit Ritter und Samurai trotz der großen geographischen und kulturellen Distanz eine Verwandtschaft aufweisen.
Die Kriegskünste haben von alters her einen entscheidenden Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung von Staaten ausüben können.
Eine schlagkräftige Armee war dem Kaiser, König oder Fürst das entscheidende Mittel, um seine machtpolitischen Ziele zu erreichen.
Das war in Japan nicht anders, als in Europa. Die Mächtigen heißen hier nicht Kaiser oder König, sondern Shogun oder Tenno.
Die Methoden der Machterhaltung waren sich nicht unähnlich, obwohl man keinen direkten kulturellen Kontakt pflegte.
Die Samurai (in Europa die Ritter) waren die ausführende Macht. Die machtpolitischen Fäden hielten die Mächtigen in Händen.
Das Können bzw. die Schlagkraft der Samurai war diesen von großem Nutzen.
Eine Übersicht über die wichtigsten Kampf- und Ritterkünste (Bujitsu/Bujutsu) ermöglicht uns einen Eindruck von dem, was ein Krieger im feudalen
und modernen Japan können musste:
Schwertkampf (Kenjitsu, Kendo; Jai-Jitsu, Iai-Do, To-Jitsu), den Messerkampf (Tanto-Jitsu),
den Stockkampf (Bo-Jitsu, Jo-Jitsu, Hanbo-Jitsu) sowie den (Yari-Jitsu, So-Jitsu, Naginata-Jitsu, Samumata-Jitsu).
Diese bekannteren Waffenkünste wurden noch durch weitere ergänzt: Der Kampf mit Kette und Kettenwaffen (Kusari-Jitsu, Kusarigama-Jitsu, Manrikikusari,
Chigirigi-Jitsu), der Kampf mit Wurfstern und -spitze (Shuriken-Jitsu) und das Bogenschießen (Kyu-Jitsu, Kyu-Do).
Neben den Waffenkünsten standen die so genannten "waffenlosen" Kampfkünste:
Aiki-Jitsu, Aikido, Chogusoku, Jiu-Jitsu, Judo, Tai-Jitsu
(Ju-tai-jitsu, Dakentai-jitsu), Tote, Karate, Kempo (parallele Entwicklung hin zum Karate),
Koshi-Jitsu, Kumi-uchi, Yoroi-kumi-uchi, Shikaku,
Torite, Yawara, Yaware und Yubi-Jitsu.
Damit waren die Krieger Japans aber noch nicht ausreichend auf ihren Dienst vorbereitet.
Es kommen noch weitere Fähigkeiten hinzu: Reiten (Ba-Jitsu), Schwimmen (Cyogi-Jitsu),
Schießen mit Feuerwaffen (Ho-Jitsu), Fesseln des Gegners (Hojo-Jitsu),
die Kunst der Lautlosigkeit und die Spionage (Nin-Jitsu, Shinobi-Jitsu).
Doch wie sah es beim Kriegshandwerk der Ritter aus? Wie alle elitären Kampftruppen, wurden auch die adeligen Ritter seit ihrer Kindheit
systematisch ausgebildet. Die meisten Kampfsysteme entstanden in Deutschland, Italien und Spanien. Dies waren gleichzeitig die Staaten,
wo die europäische Metallschmiedekunst ihre Blüte erlebte. In Europa gaben Lehrpläne vor, was ein zukünftiger Ritter zu wissen und können hatte.
Die ritterliche Kampfkunst bestand aus acht Teilen, die in diversen Schulen teils in der Reihe, teils parallel unterrichtet wurden:
Das Ringen (lat.: abrazare): Diese Disziplin wurde seit frühester Kindheit gelehrt und praktiziert. Es handelte sich überwiegend um Greif-, Wurf-, Halte- und Hebeltechniken. Schläge und Tritte dagegen, wurden aufgrund ihrer Effektlosigkeit gegenüber Panzerung, kaum praktiziert. Gleichzeitig wurde durch das Training die gesamte körperliche Fitness verbessert, man achtete besonders auf die Stärke und die Schnelligkeit der Techniken.
Man kann heute davon ausgehen, dass ausgebildete Knappen Meister im Brechen von Armen und Beinen waren.
Der Dolch (liberi daga): Auf den Umgang mit dem Dolch (Kurzschwert) wurde oft mehr Wert gelegt, als auf das Schwert.
Schließlich hatte ein Ritter auch in Friedenszeiten immer einen Dolch dabei und er musste stets in der Lage sein, sich damit verteidigen zu können.
Hier übertrafen die Europäer wohl alle anderen Nationen der Welt, allein im Lehrbuch flos fuellatorum (1409/1410) sind mehr als 80 verschiedene
Techniken zur Bekämpfung von geharnischten und bloßen Gegnern ausführlich beschrieben.
Auf dem Schlachtfeld war der Dolch unersetzlich, vor allem wenn die Hauptwaffe verloren- oder kaputtging, was nicht selten geschah.
Das Schwert (spada longa): Wie erwähnt, war das Langschwert die Hauptwaffe des Ritters.
Gelehrt wurden vor allem Hieb-, Stich-, Parier- und Griffstoßtechniken, ebenso die Schwachstellen einer Ketten- bzw. Plattenrüstung.
Optional wurde das Fechten mit dem Bidenhänder beigebracht, was aufgrund besonderer körperlicher Voraussetzungen erst später in die Mode kam.
Kampf in der Rüstung: Hier wurde die Schnelligkeit und Geschicklichkeit gewertet, trotz eines Zusatzgewichts von bis zu 20 kg und mehr,
gewöhnlich kämpfen zu können. Der Knappe lernte das Absorbieren von Hieben, das Ausweichen in schwerer Panzerung sowie das Ringen mit Zusatzgewicht.
Der Lanzenkampf: Das Führen der gewichtigen Reiterlanze, teilweise bis zu fünf Meter lang, erforderte besondere Kraft und Geschicklichkeit.
In diesem Bereich wurde die Genauigkeit eingeübt, ein kleines Ziel beim Reiten sicher treffen zu können.
Da die Lanze zunehmend die Stoßkraft der Reiterei bildete, wurde diese Disziplin streng praktiziert.
Schwere Waffen: Darunter versteht man Äxte, Kriegshammer, Morgensterne, Spieße, Dreschflegel, Knüppel und andere Waffen.
Da sie im Kampf schwersten Schaden verursachten, waren sie im Kampf überaus beliebt und wurden separat unterrichtet.
Bogenschießen: Diese Disziplin konnte bereits in der Kindheit gelehrt werden und war auf dem Schlachtfeld überlebenswichtig.
Das Reiten: Der berittene Krieger beherrschte eine Anzahl von Steigbügeltechniken, das Lenken des Schlachtrosses und die Beweglichkeit im Sattel.
In der Theorie und Praxis trennen sich Lehrpläne und Ausbildung.
Die Fähigkeiten der Ritter wurden durch viele Einzelkompetenzen erweitert, von denen ich hier noch das
Schwimmen, Bogenschießen, Boxen (Oberbegriff für waffenlose Selbstverteidigung),
Jagen, Schachspielen und das Anfertigen von Versen nenne möchte.
Von den vorgestellten Lehrplänen und ihren Inhalten auszugehen, scheint mir angesichts der großen Vielfalt
unterschiedlicher Lehrorte und Lehrmeister nicht angebracht zu sein. Es ist stattdessen von einer höchst unterschiedlichen Qualität und Quantität der
Unterrichtsinhalte auszugehen, die eng an die individuellen Fähigkeiten des Lehrmeisters bzw. der Lehrmeister gekoppelt war.
Je mehr ein Lehrer vermitteln konnte, desto besser für seinen Schüler. So konnte es nur von Vorteil sein, Geheimwissen zu erlangen, fremde
Sprachen zu erlernen und sich über den Lehrmeister Spezialwissen, das Vorteile gegenüber potenziellen Feinden verspricht, anzueignen.
Die Kampfkünste von Samurai und Rittern weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Das liegt sicherlich nicht nur an der Tatsache, dass beide berittene
Krieger waren, sondern auch an einer Parallelentwicklung in vielen Zügen, die sich auf beiden Seiten eingestellt hat.
Das Profil beider "Kriegerkasten" ist über weite Strecken identisch und nahezu perfekt an die Lebensumstände gekoppelt.
Der ausgebildete Ritter bzw. war also das Produkt dessen, was er als Individuum mit in die Ausbildung hinein gab und was sein Lehrmeister bzw. Sensei
ihm vermitteln konnte. Äußere Umstände (z. B. Krieg) beeinflussten den Entwicklungsprozess zum Teil erheblich, was sich zum Positiven (Bewährung im Kampf)
wie Negativen (Tod des/der Lehrmeister[s]) und Unterbrechung der Ausbildung) auswirken konnte.
Zum Ganzen des Menschen gehören nicht nur intellektuelle und körperliche Fähigkeiten, welche die Möglichkeiten des Wirken nach außen flankieren,
sondern auch ein Innenleben, das durch Tugenden und Werte strukturiert, durch Laster im wahrsten Sinne des Wortes belastet wird.
Beide sind fest mit menschlicher Existenz verbunden, sie charakterisieren den inneren Zustand eines Menschen.
Auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Tugendsystems bei Rittern und Samurai werde ich in einem folgenden Bericht zu sprechen kommen.
Dr. Volker Schwarz