Deutscher Jiu Jitsu Bund

Ein Rückblick zu seinem 80. Geburtstag  (Teil 2/3)

(...) Nach Jahrzehnten seiner Existenz im DJJB kann man von einer Modernisierung des Jiu Jitsu sprechen. Die Frage war nur, was man unter "modern" versteht. Das Motto des DJJB lautet: Effektive Selbstverteidigung und traditionelle Werte. Es wurde lange in der KID überlegt, wie wir unser Tun auf eine Formel bringen. Dazu gehörte ein Spagat zwischen dem, was wir als unsere technische und philosophisch-kulturelle Basis betrachten und dem, wie sich die Lebenswirklichkeit in der heutigen Zeit mit Blick auf Selbstverteidigung, Kampfkunst und Kampsport darstellt.
Man kann sich nicht vor der Realität verstecken, auch nicht vor der gesellschaftlichen Veränderung. Daher hat sich Dieter Lösgen auch intensiv für die Neufassung unserer Prüfungsordnung im DJJB entschieden. Diese Reform umfasste auch die Schaffung einer verbandsinternen Jiu Jitsu Kata des DJJB mit drei waffenlosen Kata und drei Kata gegen einen bewaffneten Angreifer. Das ist jetzt Standard für alle höheren Prüfungen. Modernes Jiu Jitsu musste sich für neue Einflüsse unter Beibehaltung der eigenen hohen Ansprüche und der eigenen Identität öffnen. Jiu Jitsu hat innerhalb und außerhalb von Japan über die krisengeschüttelten Jahrhunderte nur überlebt, weil seine hohe Effektivität überzeugt hat und die übenden Jiu Jitsuka ihr Wissen weitergeben konnten.
 

links: Bernd Kampmann, Dieter Lösgen / rechts: Harald Westrich, Dieter Lösgen

Das war zu Zeiten der Samurai noch etwas, was über Leben und Tod entschied. Die Zeiten haben sich geändert, mittlerweile wird mehr als einhundert Jahre Jiu Jitsu in Deutschland praktiziert. Heute wird Jiu Jitsu von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bis ins hohe Alter geübt. Jiu Jitsu zu üben, ist heute losgekoppelt von der Notwendigkeit überleben zu müssen. Wir leben in einer zivilen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Also muss man auch hier ein passendes Angebot schaffen. In der Selbstverteidigung muss Jiu Jitsu effektiv und wirkungsvoll sein. Als Kampfsport eine sportliche Herausforderung, die sportliche Vergleiche zulässt. Und als Kampfkunst gibt uns Jiu Jitsu die Möglichkeit, über uns selbst, das Sein und das Leben in einem anderen Sinn nachzudenken, aber auch eine von den gegenwärtigen Problemen losgelöste eigene starke Persönlichkeit und Identität zu entwickeln. In diesem Kontext erwähnte Dieter Lösgen einmal die Sichtweise seines eigenen Meisters, die wie folgt lautet: "Legt größeren Wert auf Eure Haltung als auf Euer Handeln, lernt Eure Ziele durch Haltung zu erreichen, denn die rechte Haltung ist eine Herausforderung an das innere Wachsen." Das sollte sich jeder Budoka zu eigen machen, so Dieter Lösgen.

Mit der Gründung der United Nations of Ju Jitsu (UNJJ), deren Gründungsmitglied Dieter Lösgen ist, gelang es, einen Weltverband zu schaffen, der die Vielfältigkeit unseres Systems unter einen Hut gebracht hat. Seit Anfang der 90er-Jahre gab es einen intensiven Austausch mit Mitgliedsstaaten der UNJJ auf der ganzen Welt. Viele kennen es gar nicht mehr anders und genießen diese offene Welt, treffen auf der Matte in freundschaftlichen Wettkämpfen und Lehrgängen auf unterschiedlichste Menschen, gewinnen oder verlieren gegen diese. Auch das ist Jiu Jitsu. Heute kann sich der Verband glücklich schätzen, dass wir auch in Deutschland seit vielen Jahren die Deutschen Meisterschaften des DJJB ausrichten können. Nationale und internationale Meisterschaften ergänzen sich sehr gut.
 

v.l.n.r. Professor Jonathan Stewart, Dieter Lösgen, Doug Pierre

Im Ausland kennt man Dieter Lösgen seit längerer Zeit auch unter dem Namen "Mr. Pain." Vermutlich hat es seinen Ursprung darin, dass niemand seinen Vornamen aussprechen konnte und man ihn mit "Hello Dieter" wie "Hello Deiter" – also wie im Englischen ausgesprochen – begrüßte. Und spätestens seit den 90er-Jahren hat er sich auch auf internationalen Lehrgängen und Meisterschaften einen Ruf erarbeitet, zu dem auch seine sehr schmerzhaften Arm- und Handhebel sowie die intensive Nutzung der Atemi-Techniken gehören. Wenn man auf internationalen Lehrgängen Techniken zeigt, ist dies zunächst eine Herausforderung, die irgendwann in Routine übergeht – wenn man sein Handwerk versteht, denn alle Techniken müssen bei jedem funktionieren.
Dieter Lösgen war es immer wichtig, Techniken zu vermitteln, die sicher funktionieren. Hierbei gab er allen immer die Botschaft mit auf den Weg, dass es mit dem Erlernen der Techniken auf dem Lehrgang nicht getan ist. Es ist der erste Schritt auf einem langen Weg, der sich aber lohnt. Hohe Qualität in der Technik zahlt sich aus. Auch in der Selbstverteidigungssituation. Erlerntes muss sitzen, und zwar beim ersten Mal. Auf der Straße erfährt man anhand einer Niederlage, dass die Abwehrtechnik nicht funktioniert hat, auf Lehrgängen sieht man es an der Wertschätzung und am Ruf. Dieter Lösgen hat auf unzähligen Lehrgängen und in Jahrzehnten des Unterrichtens seine einzigartigen Fähigkeiten unter Beweis gestellt, was sich auch in seinem hervorragenden Ruf niedergeschlagen hat. Aber auch daran, dass Menschen einfach mit Freude seine Techniken erlernen wollten. Seine Matte war stets voll. Die Techniken hat er oft auch mit kurzen Geschichten oder einem lehrreichen Satz verbunden – immer mit Humor. Es ist die Praxis, die zeigt, dass etwas (auch zwischenmenschlich) funktioniert oder nicht. Und man selbst muss sich überlegen, ob man mit erstklassigen oder zweitklassigen Techniken arbeiten will. Dieter Lösgen hat für sich selbst Lehrgänge immer als großen "Praxistest" betrachtet. Und die Lehrgangsteilnehmer müssen überzeugt werden, dass die Technik wirksam ist. Somit kommt nur Erstklassiges in Betracht. Überzeugendes Auftreten und überzeugende Techniken in der realen Anwendung sind hier das Erfolgskonzept.
Als Jiu Jitsuka wissen wir auch, dass Tori und Uke sich auf der Matte nichts schenken – Schmerz gehört hier auch dazu. Übrigens ist auch eine Lehre des Jiu Jitsu, dass man lernen muss die Rolle von Uke und Tori zu gleichen Teilen zu erfahren. Wer nicht einstecken kann, kann kein guter Kämpfer sein. Tori und Uke bilden zwei Seiten einer Medaille.
 

Dieter Lösgen gibt sein Wissen an die Jugend weiter

Aber zurück zu "Mr. Pain": Irgendwann hatte sich herumgesprochen, dass seine Techniken wirkungsvoll, effektiv, für alle erlernbar und auch mit Schmerz (vor allem in den Abschlusstechniken) verbunden sind. Aber der Umgang mit Techniken und Menschen auf der Matte muss immer an Wissen und die Anatomie des Menschen einerseits und die individuelle Belastbarkeit des Jiu Jitsuka andererseits gekoppelt sein. Wir sind alle freiwillig auf der Matte und es soll Spaß machen. Die Grenzen des Machbaren müssen hier stets vor Augen sein. Die tägliche Arbeit in seiner Praxis als Sport-Physiotherapeut und Heilpraktiker hat ihm hier sehr geholfen und bildete das Yin & Yang.
Berufliches Wirken für die Gesundheit der Menschen und das Unterrichten sind für Dieter Lösgen auch zwei Seiten einer Medaille. Wenn man beides so lange praktiziert, bildet es schließlich eine gesunde und harmonische Einheit, die auch das Innere des Menschen berührt. Es ist schließlich nicht so, dass man tagsüber in der Praxis den einen Menschen heilt, damit man abends beim Training einen anderen verletzt. Das Wissen um den Körper des Menschen und die Regeln der Anatomie hat Dieter Lösgen sowohl in Theorie als auch Praxis über Jahrzehnte erlernt. Im Vordergrund steht die Heilung von kranken Menschen. Es war und ist für Dieter Lösgen immer ein wichtiger Ansatz, dass Menschen sich bewusst stärken müssen, wollen sie gesund sein und bleiben. Der gezielte Aufbau von Muskeln und die Erhaltung der Beweglichkeit des Gelenkapparates sind hier von großer Bedeutung. – Und Jiu Jitsu muss man in dieser Hinsicht als eine besondere Art der Vorbereitung für den Ernstfall sehen, schließlich will man in der Selbstverteidigungssituation auch seine Gesundheit bewahren. Das Mittel ist Jiu Jitsu.
Sinnbild dieses Denkens ist der Kobushi-Bo, der auf Dieter Lösgen zurückgeht.
Der Kobushi-Bo ist eine Erfindung, die von ihm in den vielen Jahrzehnten seiner Berufspraxis als Sport-Physiotherapeut und Heilpraktiker entwickelt wurde. Ziel war ein Therapie- und Massagestab, der durch sein geringes Gewicht, seine elegante Formgebung und seine Handhabung einfach ideal war. Und wie jedes Instrument kann auch der Kobushi-Bo als Fauststab im Rahmen der Selbstverteidigung unterstützend eingesetzt werden. Wie alles, was im Budo zur Anwendung kommt, muss auch hier verantwortungsvoller Umgang und kontrollierte Anwendung Grundvoraussetzung sein. Jedes Instrument, jedes Werkzeug und jedes Gerät ist ein Hilfsmittel – der Mensch definiert seinen Zweck und seine Verwendungsform und entscheidet, ob es durch die veränderte Nutzung zur Waffe wird. Im Selbstverteidigungsfall nutzen wir Jiu Jitsuka alle Gegenstände unserer Umwelt, um unsere Chancen zu erhöhen. "Im Ernstfall gibt es keine sportlichen Regeln, sondern nur Sieg oder Niederlage", so Dieter Lösgen. Auch das ist eine Lehre des Lebens. Übrigens hat der Kobushi-Bo, der wie ein kleines Tonfa aussieht, drei Endstücke. Im übertragenen Sinne steht der Kobushi-Bo also für die drei Seiten des Jiu Jitsu: Selbstverteidigung, Kampfsport und Kampfkunst. Der Kobushi-Bo hat Dieter Lösgen bis heute immer begleitet, auch wenn er zum Beispiel auf Lehrgängen hiermit eine Muskelverkrampfung behandelt hat. Wer behandelt wurde, weiß, wie wohltuend es ist, wenn Dieter Lösgen am Mattenrand oder bei anderen unzähligen Gelegenheiten behandelt hat und bei Menschen auf beeindruckende Art und Weise (auch außerhalb der Praxis) zur Schmerzlinderung beitragen konnte.
 

Dieter Lösgen mit Bundesverdienstkreuz Auf die Frage, was für ihn das wohl Beeindruckendste gewesen sei, was er im internationalen Zusammenhang erlebt habe, antwortete Dieter Lösgen: "Ein Lehrgang mit Johnny Bernaschewice in Kanada war wohl das Beeindruckendste, das ich im Rückblick nennen kann: 4.500 Menschen aus allen Teilen der Welt auf der Matte, verteilt auf zehn Etagen in einem Hotel. Eine riesige Veranstaltung. Ein Riesenerfolg. Aber man muss bei allem auch hier wieder darauf achten, dass alles nicht zu groß wird. Die Kernaufgabe erfolgt im Verein. Training für Training, Monat für Monat, Prüfung für Prüfung."
Beeindruckend waren auch die Feierlichkeiten, als Dieter Lösgen der 10. Dan Jiu Jitsu verliehen worden ist. Shihan Paul Belous (10. Dan) hatte ihm im Jahre 1996 im Auftrag der Internationalen Assoziation für asiatische Kampfkünste (INT.A.AS.K.K.) und der United Nations of Ju Jitsu (UNJJ) den 10. Dan Jiu Jitsu verliehen. Das entspricht dann der Besteigung eines sehr hohen Berges. Dieter Lösgen ist immer gerne zum Wandern in die Berge gegangen. Die Überschreitung eines Passes oder das Erklimmen eines Gipfels stehen für Erhabenheit. Bezogen auf die Graduierung zum 10. Dan Jiu Jitsu war es einerseits ein Hochgefühl, da er nun weiterhin der höchstgraduierte Dan-Träger im Verband war. Es war aber anderer-seits auch der letzte Dan-Grad, den er erreichen konnte. Höher geht es nicht. Eine Steigerung war nicht mehr möglich. Wie jeder gute Bergsteiger wusste Dieter Lösgen aber, dass das Erreichen des Gipfels nur die erste Hälfte des Weges darstellt. Also musste er sich neue Ziele setzen, die er schließlich in den alten Zielen wiederfand. Der Verband sollte weiter wachsen und gedeihen. Das Individuum tritt zugunsten der Allgemeinheit zurück. Vielleicht ist es auch ein Weg, der zunehmend stärker nach innen wirkt.
Im Jahre 2012 hat Dieter Lösgen das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhalten. Das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse steht wie kaum etwas anderes für seine Verdienste; konkret für seinen unermüdlichen Einsatz für die Bundesrepublik Deutschland, Jiu Jitsu in die Welt zu tragen, in seinem Fall also für den Einsatz im Dienste des Jiu Jitsu. Eine große Ehre, zu der sich Dieter Lösgen einmal wie folgt äußerte: "Eigentlich hätte meine Frau das Bundesverdienstkreuz erhalten müssen, sie hat mir immer den Rücken gestärkt und freigehalten." (...)

Fortsetzung in Teil 3

Josef Djakovic (Präsident KID/DJJB)
Volker Schwarz, Andreas Dolny (Pressereferenten LV-NRW)