Während der Mensch in kreativer Auseinandersetzung mit sich und Anderen Bewegung an Bewegung reihen kann, begrenzt die Anatomie den Rahmen unserer körperlichen
Bewegungsmöglichkeit. Das kann positiv sein, wenn wir gezielt einen Hebel ansetzen, führt uns aber auch an eigene Grenzen, wenn wir uns über unseren anatomisch
festgelegten Rahmen (Gelenkigkeit etc.) hinaus bewegen wollen. Somit haben die Menschen in der Vergangenheit sicherlich im Kontext der "Evolution der Kampfkunst"
verstärkt auf die Optimierung der Bewegungen gesetzt.
Im Verlaufe der Geschichte der Budo-Künste sind immer wieder verschiedene Stile und Ausprägungen von Kampfkünsten
aufeinander getroffen, haben sich im Rahmen der "Evolution der Kampfkunst" gegenseitig beeinflusst oder gar den weiteren Weg eines Stils/einer Schule derartig verändert,
dass mancher Zweig der Kampfkunst zur Sackgasse wurde. Was nicht von Generation zu Generation durch das Üben "vererbt" wurde, geriet angesichts spärlicher Schriften und
der eng gesteckten Verbreitungsmöglichkeiten (ohne Photos, Videos, Computer, E-Mail, SMS…) derselben in Vergessenheit.
Spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts und
besonders nach dem Zweiten Weltkrieg findet mit der rasanten Weiterentwicklung moderner Medien, Migrationsbewegungen und Fortbewegungsmitteln auch ein beschleunigter
Transfer von Techniken und Ideen innerhalb der Familien des Budo und angrenzender Kampfkünste und Sportarten statt, sodass die Frage gestellt werden muss, in welchem
Maße hier der Technik- und Ideentransfer von Vorteil oder Nachteil sein kann. Das Boxen ist in Europa seit der Antike in vielen Erscheinungsformen überliefert.
Also ist eine Auseinandersetzung des Jiu-Jitsuka mit dem Boxen sehr sinnvoll.
Am 14. Februar 2016 fanden sich somit zahlreiche Jiu-Jitsuka aus ganz NRW im Dojo des
TSV Viktoria Mülheim ein, um hier ihre Grundtechniken im Bereich des Boxens zu erarbeiten und neue Eindrücke in der Anwendung von Techniken des Kämpfens mit den
Fäusten – dem "Faustfechten", wie es früher genannt wurde – zu erhalten und die Bewegungen und Erfahrungen als Ergänzungen mit in die Kompetenzen des eigenen
Jiu Jitsu einzubinden.
Diesen Erwartungen wurde der Gastreferent Christoph Urbanovicz (Boxen, 3. Dan Karate) ab der ersten Minute mehr als gerecht.
Christoph war bereits Referent auf dem KID Seminar 2012 und hat uns mit weiteren Lehrgängen erfreut. Das eigentliche Thema des Lehrgangs liest sich wie folgt:
Grundlagen des Boxens – Kampfposition, Fußstellung, Schläge – Angriff, Ausweichen... Hinter diesen wenigen Stichwörtern, die in etwa die grundlegenden Inhalte des
Lehrgangs beschreiben, verbirgt sich aber eine ganze Welt von Bewegungen und Bewegungsabläufen. Was macht folglich der Jiu-Jitsuka auf einem Lehrgang Boxen und
inwieweit ist das Boxen mit dem Jiu Jitsu vereinbar? – Diese Frage stellten sich die Lehrgangsplaner sicherlich im Vorfeld.
Erklärbar und erfahrbar ist die "Verwandtschaft" von Budo und Boxen einerseits aus der Erfahrung und andererseits aus der Grundannahme, dass Jiu Jitsu und Boxen ohne weitere hindernde Reibungspunkte miteinander verbunden werden können, weil die runden Bewegungen und Bewegungsmuster sowie die gesamte Zielsetzung: Sieg über den Gegner (Partner) bei beiden große Übereinstimmungen (Berührungspunkte) im Spannungsfeld zwischen Kunst und Sport aufweisen. Die konsequente Ausführung von Schlägen und Blöcken, das Ausweichen, das "Abtauchen", das Umlenken und die sichere Beinarbeit kennzeichnen erfolgreiches Kämpfen im Boxen und im Jiu Jitsu. Auch wenn der Boxer im Ring – in dem er sich im Sinne von Fairness und Sportlichkeit sportlichen Regeln unterwirft – nicht seine Beine als Werkzeug gegen sein Gegenüber einsetzen darf, ist die Gesamtheit der harmonischen und zugleich kraftvollen Bewegungen der unteren Körperhälfte, Beinarbeit genannt, hier doch ein herausragendes Merkmal, das die "andere Hälfte" des Boxers von der Hüfte bis zu den Zehen zu einem höchst wirkungsvollen Instrument werden lässt. Ohne schnelle Beine gibt es keine schnellen Bewegungen der Arme, denn die Beine (Füße) verbinden uns mit dem Boden; Distanzen können ohne gute Beinarbeit nicht schnell überwunden werden, Ausweichmanöver sind zu langsam und die gesamte Kondition ist zu bemängeln. Stichwort "Bodenkontakt": Nicht zu viel und nicht zu wenig davon, das ist die Erfolgsformel. Dies setzt Fitness für und durch das stetige Üben der Beinarbeit voraus. Die Wachsamkeit lässt bei guter Beinarbeit übrigens auch nicht so schnell nach... – Beinarbeit und Deckung waren buchstäblich immer wieder Dreh- und Angelpunkte des Lehrgangs. Auch beim Sparring! Besonders beim Sparring!
Wer den Lehrgang besucht hat oder schon einmal Erfahrungen mit dem Boxen machen durfte, weiß, wo die Bewegungen in unser Jiu Jitsu einfließen können oder wo sie schon vor Generationen in Deutschland und Europa immer wieder in einem harmonischen Fluss ihren Einzug (und somit ihren Einfluss) genommen haben. Auf jeden Fall steht der Umgang mit Wachsamkeit hier für eine Erweiterung der eigenen Perspektive in Bezug auf Budo an sich. Wachsamkeit, sein Gegenüber nie zu unterschätzen oder aus den Augen zu verlieren. Wachsamkeit, sich guten Einflüssen zu öffnen und schlechte von sich zu weisen und hierbei dem unterrichtenden Lehrer Vertrauen zu schenken. Und außerdem ist es ein lebendiger Appell, nie mit dem Lernen aufzuhören, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, sich aber auch stets seines Fundamentes bewusst zu sein! Denn dann ist man über den Körper und Geist mit dem Leben in stabiler Bewegung. Nach vorne. In Entwicklung. Die konstruktive Auseinandersetzung mit anderen Künsten aus der Familie der Budo-Sportarten/Künste darf durchaus vorgenommen werden; das ist besonders dann sinnvoll, wenn es gelingt, Gastreferenten wie Christoph Urbanovicz wieder für eine Übungseinheit zu gewinnen, in der es um die Vermittlung von Boxen und Budo im Gesamtzusammenhang von Kampfkunst und Kämpfen selbst geht. Die gewählte "Verwandtschaft" in Richtung von Boxen zum Jiu Jitsu hin ist ausgesprochen nützlich, da das Boxen in der Selbstverteidigungskunst Jiu Jitsu an vielen Stellen zu einem sinnvollen Einsatz kommt, ohne dass es zu Widersprüchen oder zu "konkurrierenden Fragestellungen" führt. Bei beiden "Verwandten" ist auch die Schulung des Charakters von Bedeutung. Diese Botschaft wurde auch genau so vermittelt. Das ist Christoph mehr als gelungen: Im Rahmen des Lehrgangs Boxen, auf der Matte des Jiu Jitsu, für alle Anwesenden eine Bereicherung, an die man sich gerne noch lange erinnert, weil Körper und Geist bestmöglich aktiviert worden sind. Insgesamt also alles eine gute Wahl!
Text: Volker Schwarz & Andreas DolnyPhotos: Bernd Kampmann